Ich habe mal vor ein paar Jahren einen Artikel für die BDÜ infoNRW geschrieben – nun fällt mir ein, ich könnte ihn auch hier posten, um meine Arbeit transparenter zu machen.
Kann man Gedichte übersetzen?
Robert Frost soll ja gesagt haben, „Dichtung ist das, was in der Übersetzung verlorengeht“. So ganz genau stimmt das nicht; er hat aber in seinen Konversationen über die Poesie als Handwerk geschrieben: „Poesie ist das, was sowohl Prosa als auch Gedichte in der Übersetzung verlieren.“ Was ja auch nicht falsch ist: Jagt man einen Text durch eine Übersetzungssoftware, ist die Poesie tatsächlich verloren. Und wenn ich nur den Inhalt übersetze – ohne auf den Klang, den Rhythmus und die Bilder zu achten – ebenfalls. Aber es geht ja auch anders.
Nachdichten ist vielleicht das bessere Wort: Man nehme ein Gedicht auseinander und versuche, ein möglichst ähnliches Gedicht in der Zielsprache zu schreiben. Ich weiß noch, dass ich es zum ersten Mal mit zehn Jahren probiert hatte, mit einem Limerick (und mit mäßigem Erfolg). Seitdem habe ich dies und das gelernt, vor allem während meiner Promotion: Ich fand es schon immer faszinierend, dass manche Dichter ihre eigenen Texte übersetzen, und so entstand das Buch Brodsky Translating Brodsky: Poetry in Self-Translation.
Nun ist Brodsky ein großer Dichter, und ich bin es nicht; aber ich habe gesehen, wie Brodsky nach Reimwörtern suchte, Zeilen umstellte und Lösungen fand – und mir juckten die Finger, es auch auszuprobieren. Der Dichtung haftet immer etwas Mystisches an, aber sie ist auch Bastelarbeit.
Wie geht das denn?
Ich habe mal den Roman Up the Down Staircase von Bel Kaufman ins Deutsche übersetzt. Einer seiner Protagonisten, ein Lehrer, schreibt für sein Leben gern komische Verse. Hier ist ein Vierzeiler:
I am the very model of a modern teacher, well aware
of all the new developments from Iowa to Delaware;
I’ve information sundry on my many students various
on all the graded levels of their tabulated areas.
Es ist ein lustiges Gedicht, also darf ich mich viel freier austoben als bei ernster Lyrik. Ein paar Dinge muss ich bedenken, bevor ich anfange: Die Vorlage ist ein Song von Gilbert & Sullivan, die Übersetzung muss also genauso atemlos singbar sein. Humor entsteht hier vor allem durch die vielen Bürokratismen: Das kann das Deutsche ja zum Glück ganz hervorragend. Dabei sollte ich die gleichen Wörter nehmen, die ich in der Übersetzung sonst als Schulvokabular verwende. Da gibt es zum Beispiel die Unterlagensammlungsmappen – die Länge ist an sich schon komisch. Hmmm, kann ich das Wort noch länger machen? Die Frage behalte ich mal im Hinterkopf. Okay, und wie übersetze ich „teacher“? Der textinterne „Autor“ sagt, es sei ein Lied für alle, die an der Schule arbeiten, und Gender-Neutralität ist mir persönlich wichtig. Aber „Lehrer*innen“ kann man nun mal nicht singen. „Lehrende“ ginge. Oder „Lehrkräfte“ – noch besser! Schön bürokratisch, zwei Fliegen mit einer Klappe.
Dann mal los:
Ich bin eine perfekte Lehrkraft …irgendwas …
ich weiß Bescheid … und dann ein Reim mit einem US-Staat …
Delaware ist im Original nur um des Reimes willen da. Ich kann also zwei beliebige Staaten nehmen, die weit genug auseinander liegen und einen guten Reim hergeben. In den nächsten zwei Zeilen wollte ich etwas mit den Mappen machen; ein Zungenbrecher am Schluss wäre schön… Wie wäre es mit „unterlagensammlungsmappentief“? Wenn das Metrum am Ende verrutscht, umso besser: Das ergibt einen komischen Effekt. Ich muss nur aufpassen, dass der Rhythmus ansonsten stimmt. Reimt sich denn etwas Passendes auf „tief“? Oh ja, alle möglichen Fachwörter aus dem Griechischen mit „-iv“ am Ende, das passt ja. Noch ein bisschen hin und her schieben, ein paar Mal laut vorlesen bzw. vorsingen, und wir hätten einen Vierzeiler:
Ich bin eine perfekte Lehrkraft auf der ganzen Linie,
ich weiß Bescheid, was los ist von Alaska bis Virginia;
Ich bin sensibel, kompetent und jedes andre Adjektiv,
ich kenne alle Schüler unterlagensammlungsmappentief.
Und wie ist es mit Lyrik und Geld?
Das Wunderbare an unserem Beruf ist, finde ich, dass man sich (wenn man denn Glück hat) eine Balance zwischen Vergnügen und Verdienst schaffen kann. Bei Lyrikübersetzung ist mein Mindestverdienst Null: Manchmal übersetze ich Lieblingsgedichte aus eigenem Antrieb und bekomme dann vielleicht ein Honorar von einer Literaturzeitschrift. Oder sogar einen Preis. Oder eben nichts. Nah am Minimum ist es, wenn Lyrik in einem Roman vorkommt. In meinem Vertrag stehen da 80% Aufschlag, aber ich brauche für Gedichte nicht 80% mehr Zeit, sondern eher 800%. Und trotzdem suche ich mir für meine Initiativprojekte am liebsten Texte mit Lyrikanteil…
Verlage und Zeitschriften zahlen im Schnitt um die 250 €, wenn sie eine einzelne Lyrikübersetzung bestellen. Wie viel Zeit ich brauche, kommt auf viele Variablen an: Länge, Form, Dichte der sprachlichen Mittel… Meist sind es viele Stunden intensiver Textarbeit und dann noch viele Tage, an denen mich das Gedicht beim Spazieren, Duschen und Einschlafen begleitet – „da, dieses Wort!“ Das ist auch eher Vergnügen als Arbeit, und ich sage nur zu, wenn mir der Text zusagt. Ich könnte übrigens viel Zeit sparen durch den einfachen Kniff, reimende Gedichte reimlos zu übersetzen – das wird von den meisten Verlagen sogar lieber gesehen – aber mir macht es so nun mal keinen Spaß.
Es gibt aber auch einen anderen Fall: Es kommt vor, dass Hobbydichter*innen ihre Liebesverse, Hochzeitsgratulationen und gereimte Parabeln übersetzt haben wollen. Es hat sich so ergeben, dass ich sowohl ins Englische als auch ins Deutsche übersetze (und dazu noch aus dem Russischen), und damit flattert manchmal eine lyrische Anfrage von Direktkund*innen herein. Für diese einfachere Arbeit berechne ich im Schnitt 5 € pro Lyrikzeile.
Wenn ich „einfach“ sage, heißt es übrigens nicht, dass ich solche Aufträge nicht ernst nehme. Meine Familie hielt immer viel auf selbstgeschriebene poetische Geburtstagsgrüße, und mir kommen die Tränen, wenn ich Glückwunsch-Gedichte meiner Oma lese. Sie sind aber eben relativ unkompliziert, und ich brauche mir selten den Kopf über Fragen zu zerbrechen wie „beißt sich die Assonanz in der ersten Zeile auch nicht mit dem Enjambement in der zweiten?“
Lyrikübersetzung bleibt eher ein Liebesdienst als eine Einnahmequelle. Leider kann ich es mir nicht erlauben, zu viel meiner Arbeitszeit damit zu verbringen. Aber ein bisschen eben doch. Weil es so schön ist.